Es ist Herbst und in Finnland nähern sich die Temperaturen langsam der Nullgradgrenze. Wohl einer der letzten Tage, wo ich meinen Kleinen noch über der Jacke tragen kann.
Wir haben es eilig, denn wir wollen den Bus erwischen. Die Strassen in der Stadt sind relativ leer, Coronazeit halt. Es kommt uns eine Frau entgegen, sie ist in etwa in meinem Alter. Beim Näherkommen verlangsamt sie ihren Schritt. Sie schaut uns genau an. Ihr Blick wandert von meinem Gesicht zu meinem Kind, dann zum Tuch und wieder zu meinem Gesicht. Dann schenkt sie uns ein herzliches Lächeln. Selbst wenn ich es nicht mit Sicherheit sagen kann, so bin ich dennoch überzeugt, dass auch sie ein Tragemami ist. Ich erkenne es an der Art, wie sie schaut. Ihre Augen sagen irgendwie «I feel you». Wir kennen uns nicht und teilen einzig diesen einen kurzen Augenblick. Aber dennoch fühle ich mich dieser Fremden auf seltsame Weise irgendwie verbunden. Wir teilen die Liebe zum Tragen.
Nur wenige Wochen später sind wir im Wartezimmer beim Kinderarzt. Mal wieder müssen wir uns etwas gedulden. Mein Kleiner mag das Warten genau so wenig wie ich und seine Laune ist langsam aber sicher im Keller. Meine auch. Um die Wartezeit irgendwie zu überbrücken nehme ich ihn ins Tuch. Damit haben wir bis jetzt jede noch so grosse kleine Krise überstanden. Kurz jammert er weiter, dann stimmt er sein Schlaflied an – dieses typische Summen, wer kennt es nicht? – und schlummert ein.
Beinahe im selben Moment geht auch schon die Tür auf und wir werden von einer jungen Frau reingebeten. Sie muss neu sein, denn ich habe sie noch nie gesehen. Bei unserem Anblick stutzt sie kurz, aber noch im gleichen Augenblick verwandelt sich ihre Überraschung in ein breites Lächeln: „Oh, ein Tragetuch? Wie schön! Ich habe meine Kinder auch immer im Tuch getragen!“
Und gleich ist sie da, diese Sympathie zwischen zwei eigentlich fremden Menschen, die man manchmal nicht wirklich erklären kann. In diesem Fall aber schon, uns verbindet etwas: Die Liebe zum Tragen.
Begegnungen und Momente wie diese sind schön und versüssen einem den Alltag. Aber was sind schon Fremde, die einem zulächeln, wenn sie dennoch Fremde bleiben?
Heutzutage sind viele Trageeltern durch das Internet miteinander verbunden. Auf Facebook finden sich unzählige Gruppen von verschiedensten Tragetuch- und Tragehilfeherstellern, wo Gleichgesinnte miteinander in Kontakt treten können.
Als Neumitglied in der Neisna Gruppe fällt einem schnell auf, dass sich viele der Mitglieder auch im echten Leben, also abseits von social media, kennen. Es werden (oder wurden, Coronazeit halt!) Fotos von gemeinsamen Zoobesuchen und Brunchs geteilt. «Neisna verbindet» liest man hier und da. Ich bin neugierig, und auch etwas wehmütig. Als Auslandschweizerin kann ich nicht an den sogenannten Neisnatreffs teilnehmen. Ich kann nur anhand der geteilten Bilder erahnen, dass es ganz wundervoll sein muss Gleichgesinnte, «Neisnahühner», wie man sich liebevoll mit einem Augenzwinkern nennt, zu treffen.
Mehreren Landesgrenzen zum Trotz wird auch bei mir mit der Zeit der Kontakt mit einigen Mamis persönlicher, man schreibt sich und merkt: «Die ist mir sympathisch». Irgendwann tauscht man sich auch abseits von Facebook aus. Es dreht sich nicht mehr nur um Tücher, man berät sich gegenseitig in Erziehungsfragen, man regt sich gemeinsam über den Lockdown oder den vierten Trotzanfall innerhalb einer Stunde auf, man schüttet sich auch mal das Herz aus. Dieser Austausch gibt mir viel, dennoch fehlt mir irgendwie etwas, ich will mehr.
Und so kommt er, der Moment, wo ich eine Mama, die ich bisher nur vom Schreiben her kenne, zum ersten Mal im echten Leben treffe. Ich bin nervös, komme mir fast ein bisschen vor wie bei einem Blinddate. Ihr geht es gleich, wie ich später erfahre.
Es klingelt, ich öffne die Tür und automatisch umarmen wir uns. Das Eis ist gebrochen. Und wir beide merken: Dich mag ich sehr, auch in echt.
Ja, Tragen verbindet. Und zwar Eltern rund um den Globus.
Bei mir hat das Tragen den Grundstein von ganz wunderbaren Freundschaften gelegt, die weit über die Tragezeit hinausgehen werden. Das weiss ich ganz genau.
Autor

Virginia Gisler
Tragemami aus FinnlandIch bin Virginia Gisler und wohne mit meinem Partner und unseren drei gemeinsamen Kindern in Tampere, Finnland, wohin wir vor 5 Jahren ausgewandert sind. Aktuell befinde ich mich noch in Elternzeit, aber danach werde ich voraussichtlich wieder als Lehrerin tätig sein.
Die Liebe zum Tragen habe ich schon bei unserem ersten Kind entdeckt, aber damals war ich noch der Überzeugung, dass ein Tragetuch (ja, ein EINZIGES!) mehr als genügt. Vor gut zwei Jahren bin ich dann quasi aus Versehen ins Kaninchenloch gefallen (auch bekannt als Hühnerstall) und seither interessiere ich mich sehr für alles rund ums Tragen. Dank diversen Tragegruppen auf Facebook habe ich mittlerweile viele neue Freundschaften geschlossen, und zwar weit über die Grenzen Finnlands und der Schweiz hinaus.